Literarisches Quartett mit Domenico Müllensiefen am Literaturtag 2023
Freundschaft, obwohl man den anderen gar nicht mehr mag
Der diesjährige Literaturtag der Elftklässler des Balthasar-Neumann-Gymnasiums hatte drei sehr unterschiedliche Romane im Programm, ein jeder auf seine Weise herausfordernd für die Schülerinnen und Schüler.
Seit mehr als zehn Jahren ist es am BNG Tradition, dass die Oberstufenschüler sich einen Tag lang aktuellen deutschsprachigen Werken widmen. In Form eines literarischen Quartetts, angelehnt an das 1988 von Marcel Reich-Ranicki für das ZDF ins Leben gerufene und heute von Thea Dorn moderierte Literaturmagazin, besprechen jeweils vier Schüler und Schülerinnen im Austausch mit dem Publikum einen ausgewählten Roman – mitunter kontrovers, manchmal sehr kritisch, aber immer sehr kenntnisreich.
Das erste Quartett, Nils Fleckenstein, Emma Greiner, Leticia Pfenning und Petek Oguz, nahm sich den Roman „Corpus Delicti“ der Autorin und Richterin Juli Zeh vor. Der Roman spielt in einer Gesellschaft, die durch restriktive Gesetze zum Schutz der Gesundheit tief in die Freiheit des Einzelnen eingreift. Zeh geht es hier nicht um ein Aufbegehren à la Q-Anon gegen vermeintliche Verschwörungen, fragt aber sehr wohl nach dem Verhältnis zwischen Staat und Bürger, nach der Mündigkeit und Eigenverantwortung der Menschen. Während in den Medien gerade während der Corona-Pandemie oft Bezug auf Zehs Roman aus dem Jahr 2009 genommen wurde, spielte dies für die Besprechung im Quartett keine Rolle. Leidenschaftlich diskutiert wurden vielmehr die Handlungsweisen und Motive der Hauptfigur Mia Holl, die es den Lesenden schwermacht, sich mit ihr zu identifizieren. So fiel das Resümee von Petek Oguz am Ende auch drastisch aus: „So leid es mir tut, aber mir wäre lieber gewesen, sie wäre am Ende gestorben.“
Mit dem „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon, einer non-binären Person, stand im Anschluss der Roman auf dem Programm, der im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war und der nicht nur wegen seines mitunter sehr freizügigen Inhalts heftige Debatten ausgelöst hatte. Auch Kim de l’Horizons Abrasieren der Haare während der Preisverleihung als Solidaritätsbekundung mit den Menschen im Iran hatte deutschlandweit für Zustimmung, aber auch für deutliche Kritik gesorgt. Anna-Lena Streck, Charlotte Soth, Valerie Lurz und Janina Menkinoski, die sich an diesen Roman herangewagt hatten, begannen ihr literarisches Quartett dann auch mit einer Vorstellung de l’Horizons und zeigten die biographischen Bezüge zum Roman auf. Charlotte Soth stellte sich mit einem eigenen Statement vehement gegen de l’Horizons Vorstellung einer geschlechterneutralen Sprache, während die anderen Quartett-Teilnehmerinnen versuchten, dem Wunsch de l’Horizons mit entsprechenden Formulierungen nachzukommen, was zwar immer mal zur Selbstkorrektur führte, aber insgesamt gelang. Auch der Inhalt des Romans, in dem eine Blutbuche, schweizerisch „Blutbuch“, als Leitmotiv die erzählende Person bei der Entschlüsselung toxischer Beziehungen in der Familie und in ihrer Auseinandersetzung mit tradierten Geschlechterrollen begleitet, stellte stellenweise die Geduld des Quartetts beim Lesen auf die Probe. Das Fazit war durchwachsen, einig waren sich jedoch alle, dass die Erzählstruktur des Romans für sie überraschend und völlig neu war.
Den Höhepunkt und gleichzeitigen Abschluss des Literaturtags bildete das literarische Quartett bestehend aus Charlotte Drees, Juli Willer, Charlotte Löffler und Johannes Coulon, die den Autor Domenico Müllensiefen begrüßen durften. Der Leipziger Autor gab zunächst einen Einblick in seine außergewöhnliche Biographie. Auf einem Bauernhof in der Altmark aufgewachsen, schloss Müllensiefen zunächst eine Ausbildung als Systemelektroniker ab und arbeitete mehrere Jahre in diesem Beruf. Ermutigt durch den Leipziger Krimiautor Steffen Mohr, dem Müllensiefen auch seinen Debütroman „Aus unseren Feuern“ widmete, nahm Müllensiefen 2011 den Masterstudiengang am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig auf und fühlte sich dort zunächst recht fremd als einer der wenigen Studierenden, die ohne Abitur die Ausbildung zum Schriftsteller begannen. Für die Schüler:innen sehr beeindruckend schilderte er, wie er seine Familie und sein engstes Umfeld davon überzeugen musste, auf den sicheren Arbeitsplatz zu verzichten und das Risiko einzugehen, eine künstlerische Richtung einzuschlagen. „Mein Vater machte sich Sorgen, denn in Ostdeutschland setzte man nicht einfach so ein gesichertes Einkommen aufs Spiel, aber letztlich erhielt ich von allen möglichen Seiten großen Zuspruch – von meiner Mutter, meinen Freunden, meinen Arbeitskollegen.“ Sein Roman spielt während der Nullerjahre in Leipzig, einer Zeit, in der die Menschen mit den dramatischen Umbrüchen nach der Wende konfrontiert sind. In einem mitreißenden Stil, der zunächst direkt und nüchtern wirkt, aber immer wieder auch einen subtil romantischen Blick auf Freundschaft, Familie und eigene Lebensentwürfe wirft, erzählt er, wie Thomas, Karsten und Heiko zunächst aus Spaß gemeinsam kleinere Feuer legen. Karsten wird schließlich Sprengmeister und möchte, bevor sich ihre Wege trennen, eine letzte, eine gewaltige Bombe mit seinen Freunden zünden, aber dazu kommt es nicht mehr. Als Jahre später Thomas, der sich inzwischen in Verschwörungsideologien verloren hat, tödlich verunglückt, beginnt die Suche nach der seitdem verschwundenen Bombe. Die Idee zu dem Roman sei gewesen, über eine Freundschaft zu schreiben, die sich aus den Lebensumständen einfach ergibt und der man sich verpflichtet fühlt, auch wenn man den anderen eigentlich gar nicht mehr mag, so Müllensiefen. Angesprochen auf die inhaltlichen Überschneidungen zwischen dem Ich-Erzähler Heiko Persberg und ihm selbst, erklärte er, dass sicherlich einige seiner Lebenserfahrungen in den Roman eingeflossen seien, zum Beispiel seine Arbeit als Bestatter, mit der er sein Studium finanziert habe, seine Figur aber eher jemand sei, der seine Chancen nicht ergreife und dabei resigniere. „Ich selbst bin noch immer ganz überrascht davon, wie sich mein Leben seit dem Erscheinen des Romans geändert hat. Anders als der Ich-Erzähler habe ich das Glück gehabt, viel Unterstützung zu bekommen, um meinen Weg zu gehen.“ Aktuell schreibt Müllensiefen an seinem nächsten Roman und arbeitet weiterhin in Leipzig in seinem erlernten Beruf. „Der große Traum ist“, so Müllensiefen am Ende der Veranstaltung, „in absehbarer Zeit von der Arbeit als Schriftsteller zu leben.“
22.03.2023 | Pamela Nembach